Bis wir das begreifen, was wir schon immer wußten - Vorwort

Sind Verzweiflung, Angst, Schmerz und Wut vermeidbar, wenn eine Beziehung zu Ende geht? Nein! Weil all diese Gefühle Fragen eines Verliebten sind, der die Antworten noch vom anderen braucht. Am Ende der Suche, über die Verliebtheit hinaus, steht das Ich. Und diese Begegnung ist die Entdeckung der Liebe.
 
Die Botschaft Mohsen Charifis lautet: Je besser ich die Begriffe "Liebe" und ‚"Ich" begreife, umso näher rücken sie zusammen, bis sie am Ende identisch sind. Welchen Sinn hat diese Botschaft für unsere Erfahrung mit Beziehung, Enttäuschung und Trennung, die uns mit schicksalhafter Regelmäßigkeit trifft? Der Sinn ist es zu begreifen, dass uns nur die Worte vertraut sind, nicht aber ihre Botschaften. Im Gegenteil: Der Stempel "Ich bin verlassen", "Ich bin enttäuscht" hält uns davon ab, die Botschaft des Verlassenseins und der Enttäuschung zu begreifen.
 
Am häufigsten und nachhaltigsten belügen wir uns in unserer Verzweiflung, in unserer Verletztheit am Ende einer Beziehung, die unsere Trauer begleitet. Diesen Irrwegen in der Verzweiflung setzt Charifi eine vergessene Selbstverständlichkeit entgegen: Lerne zu lieben. Gerade in seiner Trauerarbeit macht er uns deutlich, wo wir lieben und wo wir nur meinen zu lieben. Der Zauber der Verliebtheit lässt uns glauben, unsere Angst vor der Einsamkeit, das Bedürfnis nach Sicherheit und unser Angewiesensein auf Anerkennung überwunden zu haben. Aber dieser Zauber ist, wie der Rausch jeder Droge, flüchtig.
 
Das wird uns bewusst am Ende einer Beziehung. Wenn uns die Realität aus dem Zauber der Verliebtheit aufweckt, dann entdecken wir die Löcher, die wir mit dem Verliebtsein zugedeckt haben, die Löcher in uns, die Quelle unseres Brauchens. Aber allzu oft halten wir diese Löcher in uns für Löcher in der Beziehung. Das Einzige, was uns lehren kann, sie auszufüllen, ist die Überwindung unseres Brauchens. Liebe braucht nicht. Daher ist ihr Blick klar. Und ein reifes Ich, in dem die Liebe wohnt, ist sehend.
 
Liebe ist kein schicksalschwangeres Mystikum, das irgendwo in einem anderen Menschen auf uns wartet. Liebe ist das Selbst- und Weltbild eines reifen Ichs, das nicht besitzen, nicht verändern will, keine Beziehung, sondern eine Bindung zur Folge hat.
 
Früher dachten die Menschen: "Die Erde ist eine Scheibe", und sie kamen mit dieser "Erkenntnis’" wunderbar zurecht. Der sich mehr und mehr aufdrängende Gedanke, auf einer Kugel zu stehen, womöglich gerade am "unteren" Rand, versetzte sie in Angst und Schrecken. Ähnlich verhält es sich mit Verliebtheit und Liebe. Am Ende unserer Verliebtheit ergreift uns die unbändige Angst, ins Leere zu fallen. Liebe aber hat eine unendliche Anziehungskraft. Wir müssen nur erleben, dass wir, wenn wir lieben, niemals ins Leere fallen können.
 
Dr. Andreas Schmitt
Mainz, im Januar 1998
 

 
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