Gesichter einer Liebe - Ein Gespräch mit Mohsen Charifi

Über die Jahre der Freundschaft waren Einladungen zu einem Gespräch nichts Ungewöhnliches. Heute jedoch wollte sich Mohsen Charifi über ein neues Projekt austauschen, wie er - Neugierde weckend - gesagt hatte. Als er die Tür öffnete. schlug mir bereits ein vielsagendes Augenfunkeln entgegen. Er erbot sich, zunächst Tee zuzubereiten, was mir Gelegenheit gab, einen noch diskreten Blick über seinen Schreibtisch wandern zu lassen.
 
Dort befand sich, was zurzeit seine Aufmerksamkeit besaß. Altbekanntes und neu Hinzugekommenes lagen durchmischt: philosophische Werke, Gedichtsammlungen, Sachbücher, "Go für Anfänger", Werke zur Psychologie der Farbe, Kreativitätstraining, Chaosmanagement, ein juristisches Standardwerk und ein Schnellhefter, dessen Deckel über seinen Inhalt nur so viel verriet, dass er eine langjährige Sammlung darstellen musste; angedeutete Kolonnen durchgestrichener Jahreszahlen. Es war spürbar: Diese abgegriffene Pappe bewahrte das Liebgewonnene, das Persönliche. "Gedichte" stand in Grün auf grünem Grund, verblasst, quer über die freie Fläche hingeworfen.
 
Meine erste Ahnung erfuhr bald darauf Bestätigung: Mohsen Charifi dachte an eine Veröffentlichung eben jener Arbeiten. Bevor das Inhaltliche zur Sprache kam, weckte das Vorhaben selbst meine Neugierde: Was veranlasst einen Physiker und Psychologen, Liebesgedichte, die nicht in seiner Muttersprache, sondern in Deutsch verfasst sind, zu veröffentlichen?
 
Es seien, so Mohsen Charifi, sehr wohl Gedichte, die von dem Werdegang einer Liebe handelten - gegen die Klassifizierung als Liebesgedichte erhob er sofort Einspruch. Die Aufmerksamkeit würde möglicherweise in eine falsche Richtung gelenkt, sagte er, ein solches Etikett führe zu vorschnellen Zuordnungen, sein Anliegen sei ein anderes.
 
Es seien weder für sich allein der Psychologe in ihm, noch der Physiker, noch das Interesse an der Philosophie, die Zugang zu einem beliebigen Phänomen suchten, in diesem Fall zum Phänomen Liebe. Charifi betonte - und dabei formten seine Hände einen Raum -, dass vielmehr im Phänomen Liebe die gesamte Komplexität des Menschseins zum Ausdruck komme: nicht nur die Lust am Leben, die Poesie des Menschen und sein Schaffensdrang, sondern auch seine Ohnmacht, seine Isoliertheit und seine Sterblichkeit. Begriffe, die, von nur einer Disziplin ausgehend, nicht ausreichend gefüllt werden könnten, stellten sie doch so etwas wie Universalien dar. Liebesgedichte, schnell ins Private verbannt, würden dadurch ihrer eigentlichen Bedeutung beraubt. Dieser Verlust des Allgemeingültigen in der Liebe würde so die grundsätzliche Ablehnung einer vorschnellen Kategorisierung von Poesie - einer Lyrik - ebenso notwendig wie verständlich machen.
 
Mohsen Charifi geht es hauptsächlich um die Ebene der eigentlichen Wirkung von Poesie, ihrer tieferen Bedeutung, die bei der Charakterisierung "Liebesgedichte" schnell übersehen wird. Wie üblich wählte er zur Erläuterung dessen ein profanes Beispiel, denn Einsicht bedürfe nicht der Analysen, sondern der sinnergreifenden Lebensbetrachtung: Er lenkte meine Aufmerksamkeit auf unser Teetrinken. So schmeckten wir eine Weile den Aromen nach und genossen die Zeremonie: Dabei stellte er fest, dass der Geschmack zweitrangig sei, weil wir primär der Notwendigkeit zu trinken gehorchen. Formelhaft ließe sich sagen: Der Geschmack bestimmt den Weg, das Ziel aber ist die Lebenserhaltung. Parallel dazu ist Poesie nicht nur Genuss, auch wenn wir sie ihrer Schönheit wegen lesen mögen. Poesie hat eine Funktion, darin liegt ihre primäre Wirkung.
 
Mohsen Charifi bot sich an, das Augenfällige mit einer Analogie weiter zu illustrieren.
 
Es gebe Milliarden von Menschen, und dennoch ist jeder einzelne durch eine charakteristische, nur ihm eigene Äußerlichkeit unterscheidbar. Jeder sei ein Individuum und habe seine ganz eigentümlichen Merkmale. Das Entscheidende, das Funktionale sei jedoch bei allen identisch. Wir alle verfügen über Augen, Mund und Hände, wohl in unterschiedlichen Ausprägungen, dennoch aber mit gleicher Zweckgerichtetheit.
 
In der Übertragung auf die Psyche hieße dies: "Trotz der Vielheit des Individuellen ergibt sich eine Wesensgleichheit auf der Strukturebene. Jeder hat zwar individuelle Wünsche, Ängste und Bedürfnisse. Dadurch aber, dass alle unsere Wünsche, Ängste und Bedürfnisse identische Wurzeln haben, sind wir gleich. Jedes Gefühl, wie z. B. Angst, die in mannigfaltiger Form auftritt, hat letztlich nur eine Funktion: das Streben nach Selbsterhaltung und Fortpflanzung auf der rein physischen, nach Autonomie und Vermeidung der Sinnleere auf psychischer Ebene. In der Basis der Funktionalität unseres Handelns sind wir somit identisch. Das Erleben von Poesie als Medium der Selbsterkenntnis - so lautet die Schlussfolgerung".
 
Da schmunzelte der Didaktiker, der es gerne sieht, wenn etwas durch Frage und Überlegung in Gang Gebrachtes im anderen die Erkenntnis reifen lässt, was ihm wohl meine gerunzelte, nachdenkliche Stirn anzuzeigen schien. Nach einigen Rückfragen fuhr er fort: "Aufgabe der Poesie ist es, Gefühlen mit Worten Ausdruck zu verleihen. Poesie überwindet die Barrieren der Sprache und Logik, sie kann Gefühle beschreiben und benennen, Unfassbares fassbar machen. Dabei gilt es, eine Brücke zu schlagen zwischen objektiver Wahrnehmung und subjektivem Erleben. Poesie soll durch Versprachlichung auf der Gefühlsebene eine Kommunikation zwischen Autor und Leser schaffen. Im Idealfall werden die Erkenntnisse des Dichters auf den Leser übertragen. Dichtung wird dadurch gleichsam zum Ventil, macht Gefühle wahrnehmbar, lässt sie aus ihrem gedanklichen Gefängnis hinauswachsen. Lebendigkeit erlangen. So werden das Süße im Schmerz, der Sinn der Trauer und die Botschaft der Angst wahrnehmbar. Im Gedicht drückt sich die Individualität des Dichters aus, es trägt seine Stempel. Dennoch ist es nicht sein Eigentum: Es ist geschöpft aus einem kollektiv Erfahrbaren. Jeder einzelne Mensch kann Anteil daran haben. Wir man von einem Gedicht berührt, hört die eigene Sprachlosigkeit auf. Im Prozess der Überwindung der erwähnten Klischees und Barrieren ist das enthalten, was ich als die 'eigentliche Funktion und Wirkung von Poesie' sehe. Poesie ist ein Weg, der uns zur Berührung mit Teilen von uns selbst und mit anderen führt - ein Zugang zur Lebendigkeit."
 
Nach diesen Ausführungen fiel mir ein Gedanke von Marcel Reich-Ranicki ein, der in den 70ern in einer Buchbesprechung auf die rhetorische Frage, warum man Literatur lese, mit einem Hinweis T. S. Eliots antwortete. Der "shock of recognition", d. h. die Möglichkeit, etwas von sich, über sich und mit sich zu erfahren, motiviere und belohne die Anstrengung des Lesens - und gelte als Kennzeichen von Literatur, mit der die Auseinandersetzung fruchtbringend sei.
 

 
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